Deutschland|Keine automatische Prüfung der Asylbegehren von Flüchtlingen aus Griechenland
Der EuGH hat in der Rechtssache Kaveh Puid (C-4-11) mit Urteil vom 14.11.20113 entschieden, dass ein Mitgliedstaat verpflichtet ist, einen anderen für die Prüfung des Asylbegehrens zuständigen Mitgliedstaat zu ermitteln, wenn der Asylbewerber nicht an den für die Prüfung des Asylantrags ansich zuständige Mitgliedstaat überstellt werden kann, weil dort die Gefahr einer Verletzung der Grundrechte des Asylbewerbers besteht.
Die Dublin-II-Verordnung führt die Kriterien an, nach denen bestimmt werden kann, welcher Mitgliedstaat für die Entscheidung über einen in der Union gestellten Asylantrag zuständig ist. Grundsätzlich ist insoweit nur ein Mitgliedstaat zuständig. Für den Fall, dass ein Asylbewerber seinen Asylantrag in einem Mitgliedstaat stellt, der nicht der von der Verordnung als zuständig bestimmte Mitgliedstaat ist, sieht die Verordnung ein Verfahren zur Überstellung des Asylbewerbers an den zuständigen Mitgliedstaat vor. Allerdings kann der Mitgliedstaat, in dem der Antrag gestellt wurde, in dieser Situation entscheiden, den Asylbewerber nicht an den zuständigen Mitgliedstaat zu überstellen und den Antrag selbst zu prüfen.
Herr Puid, der iranischer Staatsangehöriger ist, reiste illegal über Griechenland nach Deutschland ein. Sein in Deutschland gestellter Asylantrag wurde mit der Begründung für unzulässig erklärt, der gemäß der Verordnung für die Prüfung dieses Antrags zuständige Mitgliedstaat sei Griechenland. Infolgedessen wurde Herr Puid an diesen Staat überstellt. Er erhob jedoch gegen den Bescheid über die Zurückweisung seines Antrags Klage beim Verwaltungsgericht Frankfurt am Main, das der Klage stattgab. Das Verwaltungsgericht war der Ansicht, dass Deutschland in Anbetracht der Bedingungen für die Aufnahme von Asylbewerbern und die Bearbeitung von Asylanträgen in Griechenland zur Prüfung des Antrags verpflichtet gewesen sei. In der Folge wurde Herrn Puid von den deutschen Behörden die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt.
Vor diesem Hintergrund ersucht der Hessische Verwaltungsgerichtshof, der mit einer Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Frankfurt am Main befasst ist, den Gerichtshof um Erläuterungen zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der den Asylantrag zu prüfen hat. Das vorlegende Gericht möchte wissen, ob die Verordnung dem Asylbewerber einen Anspruch verleiht, kraft dessen er von einem Mitgliedstaat die Prüfung seines Antrags verlangen kann, wenn dieser Staat ihn aufgrund der Gefahr einer Verletzung seiner Grundrechte nicht an den ursprünglich als zuständig bestimmten Mitgliedstaat überstellen kann.
In seinem Urteil vom heutigen Tag weist der Gerichtshof zunächst darauf hin, dass ein Mitgliedstaat verpflichtet ist, einen Asylbewerber nicht an den ursprünglich als zuständig bestimmten Mitgliedstaat zu überstellen, wenn die systemischen Mängel des Asylverfahrens und der Bedingungen für die Aufnahme von Asylbewerbern in dem ursprünglich bestimmten Mitgliedstaat ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass der Antragsteller tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt zu werden.
Der Gerichtshof stellt hierzu fest, dass ein Mitgliedstaat in einer solchen Situation den Antrag gemäß der Verordnung selbst prüfen kann. Allerdings stellt der Gerichtshof klar, dass dieser Mitgliedstaat, wenn er von dieser Befugnis keinen Gebrauch machen möchte, grundsätzlich nicht zur Prüfung des Antrags verpflichtet ist. In diesem Fall hat er den für die Prüfung des Asylantrags zuständigen Mitgliedstaat zu ermitteln, indem er die Prüfung der in der Verordnung angeführten Kriterien fortführt. Gelingt es ihm nicht, den zuständigen Mitgliedstaat festzustellen, ist der erste Mitgliedstaat, in dem der Asylantrag gestellt wurde, für dessen Prüfung zuständig.
Schließlich betont der Gerichtshof, dass der Mitgliedstaat, in dem sich der Asylbewerber befindet, darauf zu achten hat, dass eine Situation, in der dessen Grundrechte verletzt werden, nicht durch ein unangemessen langes Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats verschlimmert wird. Daher muss er den Antrag erforderlichenfalls selbst prüfen.
Urteil
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)
14. November 2013(*)
„Asyl – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 4 – Verordnung (EG) Nr. 343/2003 – Art. 3 Abs. 1 und 2 – Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist – Art. 6 bis 12 – Kriterien zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats – Art. 13 – Auffangklausel“
In der Rechtssache C‑4/11
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Hessischen Verwaltungsgerichtshof (Deutschland) mit Entscheidung vom 22. Dezember 2010, beim Gerichtshof eingegangen am 5. Januar 2011, in dem Verfahren
Bundesrepublik Deutschland
gegen
Kaveh Puid
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten V. Skouris, des Vizepräsidenten K. Lenaerts, der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta, der Kammerpräsidenten M. Ilešič, L. Bay Larsen (Berichterstatter) und M. Safjan, der Richter J. Malenovský, E. Levits, A. Ó Caoimh, J.‑C. Bonichot und D. Šváby sowie der Richterinnen M. Berger und A. Prechal,
Generalanwalt: N. Jääskinen,
Kanzler: K. Malacek, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 22. Januar 2013,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
– der deutschen Regierung, vertreten durch N. Graf Vitzthum als Bevollmächtigten,
– von Herrn Puid, vertreten durch Rechtsanwältin U. Schlung-Muntau,
– der belgischen Regierung, vertreten durch T. Materne als Bevollmächtigten,
– von Irland, vertreten durch D. O’Hagan als Bevollmächtigten im Beistand von D. Conlan Smyth, Barrister,
– der griechischen Regierung, vertreten durch A. Samoni-Rantou, M. Michelogiannaki, T. Papadopoulou, F. Dedousi und G. Papagianni als Bevollmächtigte,
– der französischen Regierung, vertreten durch G. de Bergues und B. Beaupère-Manokha als Bevollmächtigte,
– der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von L. D’Ascia, avvocato dello Stato,
– der polnischen Regierung, vertreten durch M. Szpunar als Bevollmächtigten,
– der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch C. Murrell als Bevollmächtigte,
– der Schweizer Regierung, vertreten durch O. Kjelsen als Bevollmächtigten,
– der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Condou-Durande und W. Bogensberger als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 18. April 2013
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 3 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist (ABl. L 50, S. 1, im Folgenden: Verordnung).
2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt), und Herrn Puid, einem iranischen Staatsangehörigen, wegen der Entscheidung des Bundesamts, den Asylantrag von Herrn Puid für unzulässig zu erklären und seine Abschiebung nach Griechenland anzuordnen.
Rechtlicher Rahmen
3 In Art. 3 Abs. 1 und 2 der Verordnung heißt es:
„(1) Die Mitgliedstaaten prüfen jeden Asylantrag, den ein Drittstaatsangehöriger an der Grenze oder im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats stellt. Der Antrag wird von einem einzigen Mitgliedstaat geprüft, der nach den Kriterien des Kapitels III als zuständiger Staat bestimmt wird.
(2) Abweichend von Absatz 1 kann jeder Mitgliedstaat einen von einem Drittstaatsangehörigen eingereichten Asylantrag prüfen, auch wenn er nach den in dieser Verordnung festgelegten Kriterien nicht für die Prüfung zuständig ist. Der betreffende Mitgliedstaat wird dadurch zum zuständigen Mitgliedstaat im Sinne dieser Verordnung und übernimmt die mit dieser Zuständigkeit einhergehenden Verpflichtungen. …“
4 Art. 5 Abs. 1 der Verordnung hat folgenden Wortlaut:
„Die Kriterien zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats finden in der in [Kapitel III] genannten Rangfolge Anwendung.“
5 Zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats im Sinne von Art. 3 Abs. 1 der Verordnung ist in deren Kapitel III eine Rangfolge objektiver Kriterien aufgeführt.
6 Art. 6 der Verordnung bezeichnet den Mitgliedstaat, der für die Prüfung eines von einem unbegleiteten Minderjährigen gestellten Asylantrags zuständig ist.
7 Die Art. 7 und 8 der Verordnung gelten für Asylbewerber, die einen Familienangehörigen haben, dem das Recht auf Aufenthalt in einem Mitgliedstaat in seiner Eigenschaft als Flüchtling gewährt wurde oder der einen Asylantrag gestellt hat, über den keine erste Sachentscheidung in einem Mitgliedstaat getroffen wurde.
8 Art. 9 der Verordnung betrifft Asylbewerber, die einen gültigen oder abgelaufenen Aufenthaltstitel oder ein gültiges oder abgelaufenes Visum besitzen.
9 Art. 10 Abs. 1 der Verordnung nennt das folgende Kriterium:
„Wird … festgestellt, dass ein Asylbewerber aus einem Drittstaat kommend die Land-, See- oder Luftgrenze eines Mitgliedstaats illegal überschritten hat, so ist dieser Mitgliedstaat für die Prüfung des Asylantrags zuständig. …“
10 Das in Art. 11 der Verordnung angeführte Kriterium ist unter bestimmten Voraussetzungen anwendbar, wenn ein Asylbewerber in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats einreist, in dem für ihn kein Visumzwang besteht.
11 Art. 12 der Verordnung bezieht sich auf Asylanträge, die im internationalen Transitbereich eines Flughafens eines Mitgliedstaats gestellt werden.
12 Nach Art. 13 der Verordnung ist, wenn sich anhand der Rangfolge der Kriterien kein Mitgliedstaat bestimmen lässt, automatisch der erste Mitgliedstaat, in dem ein Asylantrag gestellt wurde, für dessen Prüfung zuständig.
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
13 Der 1979 geborene Herr Puid kam am 20. Oktober 2007 über die Flugroute Teheran (Iran) – Athen (Griechenland) mit gefälschten Ausweispapieren nach Griechenland. Nachdem er sich vier Tage in Griechenland aufgehalten hatte, reiste er weiter nach Frankfurt am Main (Deutschland), wo er einen Asylantrag stellte.
14 Zur Sicherung der Zurückschiebung wurde gegen Herrn Puid Haft bis zum 25. Januar 2008 angeordnet. Daraufhin stellte er beim Verwaltungsgericht Frankfurt am Main Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung, mit dem er u. a. begehrte, die Bundesrepublik Deutschland zu verpflichten, sich gemäß Art. 3 Abs. 2 der Verordnung für die Prüfung seines Asylantrags für zuständig zu erklären. Das Verwaltungsgericht ordnete an, dass Herr Puid nicht vor dem 16. Januar 2008 nach Griechenland abzuschieben sei.
15 Mit Bescheid vom 14. Dezember 2007 stellte das Bundesamt fest, dass der Asylantrag von Herrn Puid unzulässig sei, und ordnete seine Abschiebung nach Griechenland an. Es war nämlich der Auffassung, dass die Hellenische Republik der für die Prüfung dieses Antrags zuständige Mitgliedstaat sei, und sah keinen Grund, der die Bundesrepublik Deutschland veranlassen könnte, Art. 3 Abs. 2 der Verordnung anzuwenden. Am 23. Januar 2008 wurde Herr Puid nach Griechenland zurückgeschoben.
16 Zwischenzeitlich, am 25. Dezember 2007, hatte Herr Puid jedoch beim Verwaltungsgericht Frankfurt am Main Klage mit dem Antrag erhoben, den Bescheid des Bundesamts aufzuheben und die Bundesrepublik Deutschland zu verpflichten, sich für seinen Asylantrag für zuständig zu erklären.
17 Mit Urteil vom 8. Juli 2009 hob das Verwaltungsgericht Frankfurt am Main den Bescheid des Bundesamts auf und stellte fest, dass die Vollziehung der Abschiebungsanordnung rechtswidrig gewesen sei. Diese Entscheidung wurde darauf gestützt, dass die Bundesrepublik Deutschland u. a. in Anbetracht der Bedingungen für die Aufnahme von Asylbewerbern und die Bearbeitung von Asylanträgen in Griechenland zur Ausübung des Selbsteintrittsrechts nach Art. 3 Abs. 2 der Verordnung verpflichtet gewesen sei.
18 Die Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch das Bundesamt, legte gegen dieses Urteil beim Hessischen Verwaltungsgerichtshof Berufung ein.
19 Vor diesem Hintergrund hat der Hessische Verwaltungsgerichtshof mit Beschluss vom 22. Dezember 2010 das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof vier Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt, um festzustellen, welche Tragweite Art. 3 Abs. 2 der Verordnung hat, wenn die Situation in dem Mitgliedstaat, der nach den in Kapitel III der Verordnung angeführten Kriterien für die Prüfung des Asylantrags zuständig ist, die Grundrechte des Asylbewerbers gefährdet.
20 Am 20. Januar 2011 willigte das Bundesamt ein, den Asylantrag von Herrn Puid auf der Grundlage von Art. 3 Abs. 2 der Verordnung zu prüfen. Mit Bescheid vom 18. Mai 2011 erkannte es ihm sodann die Flüchtlingseigenschaft zu.
21 Gleichwohl ist der Hessische Verwaltungsgerichtshof der Ansicht, dass sein Vorabentscheidungsersuchen nicht gegenstandslos geworden sei, da Herr Puid ein berechtigtes Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit des Bescheids vom 14. Dezember 2007 habe, um eine Schadensersatzklage wegen der gegen ihn verhängten Haft prüfen zu lassen.
22 Mit Schreiben vom 21. Dezember 2011 hat die Kanzlei des Gerichtshofs dem vorlegenden Gericht das Urteil vom 21. Dezember 2011, N. S. u. a. (C‑411/10 und C‑493/10, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht), übersandt und es gebeten, ihr mitzuteilen, ob es im Licht dieses Urteils sein Vorabentscheidungsersuchen aufrechterhalten wolle.
23 Mit Beschluss vom 1. Juni 2012, beim Gerichtshof eingegangen am 8. Juni 2012, hat der Hessische Verwaltungsgerichtshof seine ersten drei Fragen zurückgenommen, da diese seiner Ansicht nach mit dem Urteil N. S. u. a. hinreichend beantwortet sind. Allerdings ist das vorlegende Gericht der Meinung, dass die folgende Frage aufrechtzuerhalten sei, damit geklärt werde, welche Bedeutung dieses Urteil hinsichtlich der Möglichkeit für den Antragsteller habe, sich vor Gericht auf die Pflicht des Mitgliedstaats, in dem er sich aufhalte, zur Prüfung seines Asylantrags zu berufen:
Resultiert aus der Verpflichtung des Mitgliedstaats zur Ausübung der Berechtigung nach Art. 3 Abs. 2 Satz 1 der Verordnung ein durchsetzbarer subjektiver Anspruch des Asylbewerbers auf Ausübung des Selbsteintritts gegenüber diesem Mitgliedstaat?
Zur Vorlagefrage
24 Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob sich ein Asylbewerber vor einem nationalen Gericht auf die Pflicht des Mitgliedstaats, in dem er einen Asylantrag gestellt hat, berufen kann, diesen Antrag auf der Grundlage von Art. 3 Abs. 2 der Verordnung zu prüfen, wenn die Situation in dem Mitgliedstaat, der nach den in Kapitel III der Verordnung angeführten Kriterien für die Prüfung dieses Antrags zuständig ist, die Grundrechte des Antragstellers gefährdet.
25 Zunächst ist festzustellen, dass sich aus den Beschlüssen des vorlegenden Gerichts vom 22. Dezember 2010 und vom 1. Juni 2012 ergibt, dass diese Frage auf der Annahme beruht, dass der Mitgliedstaat, in dem der Asylbewerber seinen Asylantrag gestellt hat, in einer Situation wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden verpflichtet sei, das Selbsteintrittsrecht nach Art. 3 Abs. 2 der Verordnung auszuüben.
26 Diese Vorschrift kann eine solche Annahme jedoch nicht rechtfertigen.
27 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass ein Asylantrag gemäß Art. 3 Abs. 1 der Verordnung von einem einzigen Mitgliedstaat geprüft wird, der nach den Kriterien des Kapitels III der Verordnung als zuständiger Staat bestimmt wird.
28 Jedoch sieht Art. 3 Abs. 2 der Verordnung vor, dass jeder Mitgliedstaat abweichend von Art. 3 Abs. 1 einen von einem Drittstaatsangehörigen eingereichten Asylantrag prüfen kann, auch wenn er nach den in dieser Verordnung festgelegten Kriterien nicht für die Prüfung zuständig ist.
29 Zwar hat der Gerichtshof in Randnr. 107 des Urteils N. S. u. a. darauf hingewiesen, dass der den zuständigen Mitgliedstaat bestimmende Mitgliedstaat unter Umständen wie den in dem genannten Urteil in Rede stehenden über die Befugnis nach Art. 3 Abs. 2 der Verordnung verfügt, den Antrag selbst zu prüfen, er hat aber nicht festgestellt, dass der Mitgliedstaat dazu verpflichtet wäre.
30 Vielmehr hat der Gerichtshof entschieden, dass es den Mitgliedstaaten obliegt, einen Asylbewerber nicht an den nach den Kriterien des Kapitels III der Verordnung als zuständig bestimmten Mitgliedstaat zu überstellen, wenn ihnen nicht unbekannt sein kann, dass die systemischen Mängel des Asylverfahrens und der Bedingungen für die Aufnahme von Asylbewerbern in diesem Mitgliedstaat ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass der Antragsteller tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ausgesetzt zu werden (vgl. in diesem Sinne Urteil N. S. u. a., Randnrn. 94 und 106).
31 Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob solche systemischen Mängel gegeben waren, als die Entscheidung, Herrn Puid nach Griechenland abzuschieben, vollzogen wurde.
32 Zu der Frage, ob der Mitgliedstaat, der die Überstellung des Asylbewerbers an den ursprünglich nach der Verordnung als zuständig bestimmten Mitgliedstaat nicht durchführen kann, den Antrag selbst prüfen muss, ist darauf hinzuweisen, dass Kapitel III der Verordnung eine Reihe von Kriterien aufstellt und diese Kriterien nach Art. 5 Abs. 1 der Verordnung in der in diesem Kapitel genannten Rangfolge Anwendung finden (Urteil N. S. u. a., Randnr. 95).
33 Wie der Gerichtshof bereits entschieden hat, hat folglich dann, wenn die Überstellung eines Antragstellers an den ursprünglich nach den Kriterien des Kapitels III der Verordnung als zuständig bestimmten Mitgliedstaat nicht möglich ist, der Mitgliedstaat, der die Überstellung vornehmen müsste, vorbehaltlich der Befugnis, den Antrag im Sinne von Art. 3 Abs. 2 der Verordnung selbst zu prüfen, die Prüfung der Kriterien des genannten Kapitels fortzuführen, um festzustellen, ob anhand eines dieser Kriterien ein anderer Mitgliedstaat als für die Prüfung des Asylantrags zuständig bestimmt werden kann (Urteil N. S. u. a., Randnrn. 96 und 107).
34 Ist dies nicht der Fall, so ist der erste Mitgliedstaat, in dem der Asylantrag gestellt wurde, nach Art. 13 der Verordnung für dessen Prüfung zuständig (vgl. in diesem Sinne Urteil N. S. u. a., Randnr. 97).
35 Der Mitgliedstaat, in dem sich der Asylbewerber befindet, hat jedoch darauf zu achten, dass eine Situation, in der dessen Grundrechte verletzt werden, nicht durch ein unangemessen langes Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats verschlimmert wird. Erforderlichenfalls muss er den Antrag nach den Modalitäten des Art. 3 Abs. 2 der Verordnung selbst prüfen (Urteil N. S. u. a., Randnrn. 98 und 108).
36 Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass dann, wenn den Mitgliedstaaten nicht unbekannt sein kann, dass die systemischen Mängel des Asylverfahrens und der Bedingungen für die Aufnahme von Asylbewerbern in dem ursprünglich nach den Kriterien des Kapitels III der Verordnung als zuständig bestimmten Mitgliedstaat ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass der betreffende Asylbewerber tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ausgesetzt zu werden, was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist, der den zuständigen Mitgliedstaat bestimmende Mitgliedstaat verpflichtet ist, den Asylbewerber nicht an den ursprünglich als zuständig bestimmten Mitgliedstaat zu überstellen und – vorbehaltlich der Wahrnehmung der Befugnis, den Antrag selbst zu prüfen – die Prüfung der Kriterien des genannten Kapitels fortzuführen, um festzustellen, ob ein anderer Mitgliedstaat nach einem dieser Kriterien oder andernfalls nach Art. 13 der Verordnung als zuständig bestimmt werden kann.
37 Hingegen hat in einer solchen Situation die Unmöglichkeit der Überstellung eines Asylbewerbers an den ursprünglich als zuständig bestimmten Mitgliedstaat als solche nicht zur Folge, dass der den zuständigen Mitgliedstaat bestimmende Mitgliedstaat verpflichtet ist, den Asylantrag auf der Grundlage von Art. 3 Abs. 2 der Verordnung selbst zu prüfen.
Kosten
38 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:
Wenn den Mitgliedstaaten nicht unbekannt sein kann, dass die systemischen Mängel des Asylverfahrens und der Bedingungen für die Aufnahme von Asylbewerbern in dem ursprünglich nach den Kriterien des Kapitels III der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist, als zuständig bestimmten Mitgliedstaat ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass der betreffende Asylbewerber tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ausgesetzt zu werden, was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist, ist der den zuständigen Mitgliedstaat bestimmende Mitgliedstaat verpflichtet, den Asylbewerber nicht an den ursprünglich als zuständig bestimmten Mitgliedstaat zu überstellen und – vorbehaltlich der Wahrnehmung der Befugnis, den Antrag selbst zu prüfen – die Prüfung der Kriterien des genannten Kapitels fortzuführen, um festzustellen, ob ein anderer Mitgliedstaat nach einem dieser Kriterien oder andernfalls nach Art. 13 der Verordnung als zuständig bestimmt werden kann.
Hingegen hat in einer solchen Situation die Unmöglichkeit der Überstellung eines Asylbewerbers an den ursprünglich als zuständig bestimmten Mitgliedstaat als solche nicht zur Folge, dass der den zuständigen Mitgliedstaat bestimmende Mitgliedstaat verpflichtet ist, den Asylantrag auf der Grundlage von Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 selbst zu prüfen.
Veröffentlicht am 29. Dezember 2013 in Asyl, Dokumentation, Gesetze, Human Rights, Meinungen, Urteile und mit Asyl, Deutschland, Dublin, Dublin II, Germany, Gesetze, Human Rights, Iran, Medien, Menschenrechte, Mitgliedstaat, Politik getaggt. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink. Kommentare deaktiviert für Deutschland|Keine automatische Prüfung der Asylbegehren von Flüchtlingen aus Griechenland.