VG Schwerin: Verfolgung im Iran

Leitsatz: 
Bei Übertritt zum Christentum droht iranischen Staatsangehörigen die Gefahr der Verfolgung im Iran. Das Gericht muss nicht die Frage prüfen, ob die Hinwendung zu der angenommenen Religion auf einer festen Überzeugung und einem ernstgemeinten religiösen Einstellungswechsel beruht und nicht lediglich wegen der Asylantragstellung aus Opportunitätserwägungen erfolgt ist. Die Überprüfung, ob der Glaubensübertritt ernsthaft gewollt ist, hat nach innerkirchlichem Recht der zuständige Geistliche vorzunehmen; staatliche Behörden und Gerichte sind daran staatskirchenrechtlich grundsätzlich gebunden.

Vollständiges Urteil

Normen:
AufenthG § 60 Abs. 1, WRV Art. 137 Abs. 3, AsylVfG § 28 Abs. 1, AsylVfG § 28 Abs. 1 a,

Auszüge:

[…]

dd) Es bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass der Übertritt der Kläger zum Christentum nur mit Blick auf die mögliche Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft erfolgt ist.

 

(1) Das Gericht muss im vorliegenden Fall nicht die Frage prüfen, ob die Hinwendung zu der angenommenen Religion auf einer festen Überzeugung und einem ernst gemeinten religiösen Einstellungswandel beruht und nicht lediglich wegen der Asylantragstellung aus Opportunitätserwägungen erfolgt ist. Der Glaubenswechsel soll nach verbreiteter Auffassung in der Rechtsprechung asyl- und flüchtlingsrechtlich nur beachtlich sein, wenn dieser die religiöse Identität des Asylbewerbers in einer Weise prägt, dass ihm nicht angesonnen werden kann, in seinem Heimatland auf die von Art. 10 Abs. 1 lit. b QualfRL garantierten Rechte zu verzichten, nur um staatlichen Verfolgungsmaßnahmen zu entgehen ((so etwa BVerwG, Urt. v. 20. Januar 2004 – 1 C 9.03 -, juris, Rn. 22;

HessVGH, Urt. v. 26. Juli 2007 – 8 UE 3140/05.A -, juris, Rn. 20; OVG Saarl., Urt. v. 26. Juni 2007 – 1 A 222/07 -, juris, Rn. 57, 71; BayVGH, Urt. v. 23. Oktober 2007 – 14 B 06.30315 -, juris, Rn. 15; OVG NRW, Beschl. v. 30. Juli 2009, juris Rn. 41; Urt. v. 7. November 2012 -, juris Rn. 37).

 

Demgegenüber hält das Gericht auch nach neuerlicher Überprüfung an der Auffassung fest, dass die Prüfung der Frage des ernsthaften Übertritts zu einer Religion staatlichen Behörden und Gerichten aus staatskirchenrechtlichen Gründen grundsätzlich entzogen ist, wenn eine Religionsgesellschaft oder Kirche im Sinne des Art. 140 GG, Art. 137 der Weimarer Reichsverfassung (WRV) diesen Übertritt begleitet und dokumentiert hat. (siehe bereits VG Stuttgart, Urt. v. 24. September 2009 – A 11 K 1146/08 -, juris Rn. 31).

 

(2) Nach den durch Art. 140 GG inkorporierten Vorschriften der Weimarer Reichsverfassung ist der bundesrepublikanische Staat weltanschaulich neutral. In Art. 137 Abs. 1 WRV ist das kirchliche Selbstbestimmungsrecht anerkannt. Neben dem Selbstbestimmungsrecht ist durch Art. 140 GG, Art. 137 Abs. 3 WRV die Ordnung und Verwaltung der eigenen Angelegenheiten der Religionsgesellschaften und Kirchen gewährleistet (vgl. v. Campenhausen/de Wall, Staatskirchenrecht, 4. Aufl. 2006, S. 99 ff.,149 ff.; Erler, Kirchenrecht, 1983, S. 33 ff.; Mikat, in: Benda/Maihofer/Vogel, Handbuch des Verfassungsrechts, Band 2, 1995, § 29 Rn. 25 ff.).

 

Ihnen ist dort die Freiheit garantiert, ihre Angelegenheiten selbständig innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes zu ordnen und zu verwalten. Die Garantie freier Ordnung und Verwaltung der eigenen Angelegenheiten ist eine notwendige, rechtlich selbständige Gewährleistung, die der Freiheit des religiösen Lebens und Wirkens der Kirchen und Religionsgemeinschaften (Art. 4 Abs. 2 GG) die zur Wahrnehmung dieser Aufgaben unerlässliche Freiheit der Bestimmung über Organisation, Normsetzung und Verwaltung hinzufügt. Zwar ist diese Garantie nur „innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes“ gegeben. Daraus folgt aber nicht, dass jedes allgemeine staatliche Gesetz, sofern es nur aus weltlicher Sicht von der zu regelnden Materie her als vernünftig erscheint, ohne weiteres in den den Kirchen (Religionsgesellschaften) zustehenden Autonomiebereich eingreifen könnte. Bei rein inneren kirchlichen Angelegenheiten kann ein staatliches Gesetz für die Kirche überhaupt keine Schranke ihres Handelns bilden. Aber auch in dem Bereich, in dem der Staat zum Schutze anderer für das Gemeinwesen bedeutsamer Rechtsgüter ordnen und gestalten kann, trifft ein dem kirchlichen Selbstbestimmungsrecht Schranken ziehendes Gesetz seinerseits auf eine ebensolche Schranke, nämlich auf die materielle Wertentscheidung der Verfassung, die über den für die Staatsgewalt ohnehin unantastbaren Freiheitsraum der Kirchen hinaus ihre und ihrer Einrichtungen besondere Eigenständigkeit gegenüber dem Staat anerkennt. Dieser Wechselwirkung von Kirchenfreiheit und Schrankenzweck ist durch entsprechende Güterabwägung Rechnung zu tragen. Dabei ist dem Selbstverständnis der Kirchen ein besonderes Gewicht beizumessen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 17. Februar 1965 – 1 BvR 732/64 -, juris Rn. 7; Beschl. v. 14. Mai 1986 – 2 BvL 19/84 -, juris Rn. 29; Beschl. v. 9. Dezember 2008 – 2 BvR 717/08 -, juris Rn. 3 ff.; v. Campenhausen/de Wall, Staatskirchenrecht, S. 113 ff.; Mikat, in: Benda/Maihofer/Vogel, Handbuch, § 29 Rn. 25 ff.; Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, 11. Aufl. 2012, Art. 140/Art. 137 WRV Rn. 7; Kazele, VerwArch 2005, 557 u. 562 ff. je mwN; vgl. aber BGH, Urt. v. 28. März 2003 – V ZR 261/02 -, juris LS 5 und 6 sowie Rn. 13 ff., 17 ff., wonach staatliche Gerichte innerkirchliche Maßnahmen in engen Grenzen jedenfalls auf ihre Wirksamkeit überprüfen können sollen).

 

Religionsgesellschaften in diesem Sinn sind nicht nur die Amtskirchen, sondern unabhängig von ihrer Rechtsform auch Verbände, die die Angehörigen ein und desselben Glaubensbekenntnisses oder mehrerer verwandter Glaubensbekenntnisse zu allseitiger Erfüllung der durch das gemeinsame Bekenntnis gestellten Aufgaben zusammenfassen (vgl. zur Definition nur BVerwG, Urt. v. 23. Februar 2005 – 6 C 2.04 -, juris Rn. 23 mwN; BVerwG, Urt v. 15. Juni 1995 – 3 C 31.93 – juris Rn. 29 und v. 23. Februar 2005 – 6 C 2.04 -, juris Rn. 23 mwN; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 140 Rn. 6a mwN).

 

Das Mitgliedschaftsrecht zählt zu den eigenen Angelegenheiten der Religionsgemeinschaft, die diese nach ihrem jeweiligen theologischen Selbstverständnis regeln können (v. Campenhausen/de Wall, Staatskirchenrecht, S. 149 ff.). Die Taufe, die nach evangelischen (und auch nach katholischem Kirchenrecht) ein Sakrament ist (vgl. de Wall/Muckel, Kirchenrecht, 3. Aufl. 2012, § 32 Rn. 2, § 21 Rn. 4; Erler, Kirchenrecht, S. 150, 184; missio, Asyl für Konvertiten? – Zur Problematik der Glaubwürdigkeitsprüfung eines Glaubenswechsels durch Exekutive und Judikative, Aachen/München 2007, S. 9 f.) gehört als Aufnahmeakt in die christliche Gemeinschaft zum seelsorgerischen Kernbereich einer Religionsgesellschaft oder Kirche.

 

Dem kirchlichen Recht wird allgemein das Vertrauen entgegengebracht, dass es staatliche Interessen nicht verletzt und dass es Verantwortung für die staatlichen Interessen selbst wahrnimmt. Das Bundesverfassungsgericht hat zu der Schrankenformel des Art. 137 Abs. 3 WRV demgemäß ausgeführt, dass darin „heute die Basis für eine Konkordanz zwischen staatlicher und kirchlicher Ordnung erblickt [wird], die es gestattet, auf beiden Seiten davon auszugehen, daß staatliche Gesetze nicht die den Kirchen wesentlichen eigenen Ordnungen beeinträchtigen und daß kirchliche Gesetze nicht die für den Staat unabdingbare Ordnung kränken werden“ (BVerfG, Beschl. v. 21. September 1976 – 2 BvR 350/75 – juris Rn. 68; dem folgend Schlaich, JZ 1980, 209 [214] sowie Mikat, in: Benda/Maihofer/Vogel, Handbuch, § 29 Rn. 25).

 

Dieses Vertrauen, staatliche Interessen nicht zu verletzen, ist grundsätzlich auch dem kirchlichen Handeln entgegenzubringen.

 

Nach Auffassung des Gerichts ist es nach dem Vorstehenden grundsätzlich allein seelsorgerische Aufgabe der zuständigen Amtsträger bzw. Organe der Kirchen und Glaubensgemeinschaften zu prüfen, ob der Glaubenswechsel und die begehrte Taufe ernsthaft gewollt und nicht nur formal wegen des begehrten Asyl- oder Flüchtlingsstatus vorgenommen werden soll. Die Überprüfung, ob der Glaubensübertritt ernsthaft gewollt ist, hat der nach innerkirchlichem Recht (hier: Art. 18 Abs. 3, Art. 19 f. der Ordnung des kirchlichen Lebens der Evangelischen Kirche der Union vom 5. Juni 1999) zuständige Geistliche vorzunehmen; staatliche Behörden und Gerichte sind daran staatskirchenrechtlich grundsätzlich gebunden (ebenso missio, Asyl für Konvertiten?, S. 10; Göbel-Zimmermann, Die Bedeutung und Taufe und Konversion in asylrechtlichen Verfahren (Vortrag vom 27. Mai 2009 auf der Tagung der evangelischen Kirche der Pfalz in Speyer), S. 9; Huber/ders. Ausländerrecht und Asylrecht 2. Aufl. 2008 Rn. 1738 aE).

 

Nur wenn es beachtliche Anhaltspunkte dafür gibt, dass es sich bei den vorgelegten Taufunterlagen um eine Gefälligkeitsbescheinigung der Religionsgesellschaft oder des Geistlichen handelt oder diese Unterlagen unlauter erlangt worden sind, ist die Ernsthaftigkeit des Glaubensübertritts des Asylsuchenden durch die Beklagte und das Gericht näher zu beleuchten.

 

(3) Bei Beachtung dieser Vorgaben ist der Übertritt der Kläger zum Christentum glaubhaft und spiegelt deren religiöse Grundüberzeugung wider. Die Kläger sind im vorliegenden Fall durch einen Pastor der evangelischen Kirchengemeinde [0] getauft worden. Zudem ist der Übertritt erst einige Zeit nach der Einreise nach Deutschland erfolgt. Anhaltspunkte, dass die Taufbescheinigung unredlich erworben worden ist, sind nicht ersichtlich. Auch der vom Gericht vernommene Geistliche hat keine Zweifel gehabt, dass der Taufwunsch der Kläger ehrlich gewesen ist.

 

Zudem haben die Kläger in der mündlichen Verhandlung auch gezeigt, dass sie sich in den Grundlagen des christlichen Glaubens auskennen und Fragen zum Inhalt der Bibel zutreffend beantwortet.

 

Daher stehen auch § 28 Abs. 1 und 1a AsylVfG der Anerkennung der Kläger als Asylberechtigte bzw. der Zuerkennung ihrer Flüchtlingseigenschaft nicht entgegen. Nach diesen Bestimmungen können Ausländer regelmäßig nicht als asylberechtigt anerkannt werden, wenn die Gefahr politischer Verfolgung auf Umstände beruht, die sie nach Verlassen des Herkunftslandes aus eigenem Entschluss geschaffen haben, es sei denn das Verhalten beruht auf einer bereits im Herkunftsland erkennbar betätigten Überzeugung. Diese Bestimmungen sollen verhindern, dass Aktivitäten nur deshalb entfalten werden, um das Asylbegehren zu fördern. Im Falle des glaubhaften Religionswechsels greifen diese Bestimmungen daher nicht, wenn der Asylsuchende aus innerer Überzeugung zum christlichen Glauben übergetreten ist (vgl. etwa Fränkel, in: Hofmann/Hoffmann, AuslR, § 28 AsylVfG Rn. 13; Bergmann, in: Renner, Ausländerrecht, 9. Aufl. 2011, § 28 AsylVfG Rn. 17; Funke-Kaiser, in: GK-AsylVfG (Stand: November 2007), § 28 Rn. 37; Marx, AsylVfG, § 28 Rn. 90; Huber-Göbel-Zimmermann, Ausländer- und Asylrecht, Rn. 1738 je mwN).

 

Nach Überzeugung des Gerichts ist dies bei den Klägern – wie dargelegt – der Fall. […]

 

Veröffentlicht am 2. Mai 2013 in Dokumente, Gesetze, Politik, Urteile und mit , , , , , , , , , , getaggt. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink. Kommentare deaktiviert für VG Schwerin: Verfolgung im Iran.

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